Zeitwahrnehmung ist subjektiv

Auch wenn man Zeit messen kann, wird unsere Wahrnehmung davon durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst – wie Emotionen, Motivation oder körperliche Empfindungen (z. B. Geräusche, Bilder, Berührungen). Wenn uns langweilig ist, kann es sich so anfühlen, als würde die Zeit langsamer vergehen. Wenn wir hingegen Spaß haben, zum Beispiel auf der Schueberfouer, scheint die Zeit viel zu schnell zu vergehen.

Was beeinflusst unsere Zeitwahrnehmung sonst noch?

Psychologische Studien haben gezeigt, dass die Zeit umso schneller vergeht, je stärker man in eine Aufgabe eingebunden ist. Aber die Zeit vergeht auch wie im Flug, wenn man viele Aufgaben hat, unter Stress steht oder einfach konzentriert ist. Umgekehrt scheint sich die Zeit zu dehnen, wenn die Aufgaben sich wiederholen oder nicht genügend stimulierend sind.

Was wäre, wenn wir diese Erkenntnisse zu unserem Vorteil nutzen und die Zeit so steuern könnten, dass sie im Unterricht schneller vergeht, aber bei Prüfungen langsamer?

Was ist ChronoPilot?

ChronoPilot ist ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Dr. Jean Botev. Die Forschenden möchten ein tragbares Gerät entwickeln, das mithilfe multisensorischer Stimulation (visuelle, akustische und taktile Rückmeldungen) das Zeitempfinden der Nutzerinnen und Nutzer verlängern oder verkürzen kann.

Das Produkt soll den Stresslevel, die Langeweile und die Konzentration der Nutzerinnen und Nutzer überwachen – mithilfe von Technologien wie EEG, EKG und Eye-Tracking (also der Aktivität des Gehirns, des Herzens und der Augenbewegungen). Diese Daten werden dann in eine KI eingespeist, die das Zeitempfinden je nach gewünschtem Effekt anpasst (also die Zeitwahrnehmung verlangsamt oder beschleunigt). Mit anderen Worten: Das Gerät verändert zum Beispiel die Musik, die du hörst, fügt Bilder oder Objekte in dein Sichtfeld ein oder sendet Vibrationen in deine Hand – damit du das Gefühl bekommst, dass die Zeit langsamer oder schneller vergeht.

Dieses multidisziplinäre Forschungsprojekt vereint Erkenntnisse aus der Kognitionswissenschaft, Psychologie, Informatik und Sensortechnologie.

Was haben sie bisher herausgefunden?

Dieses laufende Forschungsprojekt hat noch viele Experimente durchzuführen. Eine ihrer Erkenntnisse ist, dass sie bewerten können, wie ein Nutzer Zeit wahrnimmt, ohne ihn direkt zu fragen. Sie haben herausgefunden, dass es eine spezifische Gehirnsignatur für die Überschätzung, korrekte Einschätzung oder Unterschätzung von Zeit gibt. Würde sich diese Signatur verändern, wenn die Bedingungen jeder Aufgabe unterschiedlich wären?

Gehirnsignaturen für Über-, Unter- und korrekte Einschätzung

Das Experiment bestand darin, dass die Teilnehmenden eine Reihe von Aufgaben durchführten und die Zeit bewerteten, die sie für jede Aufgabe benötigten. Ihre Gehirnaktivität wurde mit einer (1) EEG-Kappe (Elektroenzephalographie-Kappe) überwacht, und die Bewegungen ihrer Hände wurden mit einem (2) Hand-Tracking-Gerät an der Vorderseite des (3) VR-Headsets erfasst.

Versuchsaufbau mit (1) EEG-Kappe, (2) am Headset montiertem Hand-Tracking-Gerät und (3) VR-Headset.

Anschließend änderten sie die Bedingungen jeder Aufgabe. Zum Beispiel, um den Einfluss von Emotionen auf die Zeitwahrnehmung zu untersuchen, wurden den Teilnehmenden vier Bilder gezeigt, die eine bestimmte Emotion hervorrufen sollten. Danach wurden sie gefragt, wie lange diese Bilder ihrer Meinung nach angezeigt wurden.

Oder, um den Einfluss der Aufgaben­schwierigkeit auf die Zeitwahrnehmung zu untersuchen, mussten die Teilnehmenden die Anzahl der Bälle in einem Bild mit zunehmender Schwierigkeit zählen und anschließend einschätzen, wie viel Zeit sie für jede Aufgabe benötigt hatten.

Die Forschenden untersuchten außerdem den Einfluss von Auffälligkeiten (Oddball), Größenordnung (Magnitude) und Erwartung.

Sie fanden heraus, dass die Gehirnsignaturen der Zeiteinschätzung unabhängig von den Aufgaben waren. ChronoPilot kann diese Gehirnsignaturen daher nutzen, um die Nutzererfahrung entsprechend den Bedürfnissen anzupassen (die Zeitwahrnehmung verlangsamen oder beschleunigen).

Was muss noch getan werden?

Dies ist der erste Schritt zum Verständnis und zur Anwendung dieser innovativen Technologie. Die Forschenden müssen noch viele Fragen beantworten. Zum Beispiel: Was passiert mit der Zeitwahrnehmung, wenn derselbe Reiz ständig wiederholt wird? Hat er weiterhin denselben Effekt, verliert er ihn oder hat er sogar den gegenteiligen Effekt? Und was passiert, wenn man verschiedene Reize kombiniert?

Die Zeitwahrnehmung ist zudem sehr individuell; derselbe Reiz kann bei verschiedenen Personen unterschiedliche Wirkungen haben. Um dieser Frage nachzugehen, arbeiten die Forschenden daran, individuelle KI-Modelle zu entwickeln, die sich an die persönliche Reizreaktion anpassen. ChronoPilot wird somit in der Lage sein, beispielsweise Ihre Stressreaktion vorherzusagen und entsprechend zu reagieren. Unabhängig davon wird dieses Gerät vollständig vom Nutzer kontrolliert, sodass man es jederzeit ein- oder ausschalten kann.

Die Forschung zeigt das Potenzial für Anwendungen, die Produktivität, Wohlbefinden, Kreativität und Sicherheit verbessern können, indem die Zeitwahrnehmung zu einer veränderbaren, nutzerzentrierten Variable wird – anstatt einer festen Konstante. Zum Beispiel kann in stressigen Situationen die Wahrnehmung, genügend Zeit für eine Entscheidung zu haben, dabei helfen, bessere Entscheidungen zu treffen.